Kunst und Nüchternheit Let’s talk sober Titilayo Bornmann

Kreativität und Sehnsuchtsorte

Vor sechs Jahren habe ich begonnen, meine persönliche Geschichte aufzuschreiben. Es war der Moment, in dem ich mir endlich eingestand, dass ich Hilfe brauchte. Ich wollte verstehen, wie es dazu kam, dass ich abhängig von Alkohol wurde. Das Schreiben wurde ebenso für mich zur wertvollen Ressource, wie meine Kreativität. Außerdem war es hilfreich und stärkend, Zeit an meinem Sehnsuchtsort zu verbringen, um mir über die nächsten Schritte klar zu werden.
Mit diesem Text möchte ich Mut machen, sich auf die Suche nach den eigenen Ressourcen zu machen, nach Dingen, Orten und Menschen, die einem gut tun – und sie zu pflegen.

Mein Ort: Ein Dorf in Portugals Norden

1992 war ich das erste Mal in Portugal, und als ich das Land verlassen musste, war mein Herz schwer. Dieses Gefühl blieb viele Jahre – es war, als hätte ich die Liebe meines Lebens verloren. Erst als ich mich knapp dreißig Jahre später dazu entschloss, ganz nach Portugal zu gehen, legte sich dieser Schmerz.

2018 hatte ich das große Glück, dass ich das Anwesen einer Bekannten, ihren zuckersüßen Kater Jack und ihre lustigen, bunten Fische irgendwo im Nirgendwo in Portugal für ein paar Monate hüten durfte. So lernte ich das Dorf kennen und lieben, in dem ich heute überwiegend lebe.

Zeit, Ruhe, Reflektieren – und dann die Entscheidung

Ich fühlte mich augenblicklich wohl und genoss sowohl die Tage, an denen ich allein war, als auch die Zeiten, wenn ich Besuch bekam. War ich allein, versuchte ich nie mehr als zwei Gläser Wein am Abend zu trinken. Ganz ohne ging es jedoch nie, auch wenn ich es mir fest vornahm. Abgesehen davon, dass ich abhängig vom Alkohol war, hatte ich jeden Abend vorm Zubettgehen wahnsinnige Angst – Angst vor der Dunkelheit, Angst, dass plötzlich jemand neben mir stehen könnte. Diese diffuse Angst begleitete mich schon ein Leben lang. Trank ich, wurde ich ruhiger, und je mehr ich trank, desto mehr legte sich die Angst. Morgens war ich dankbar und glücklich, dass ich wieder eine Nacht überstanden hatte.

Die Sucht, das musste ich mir ehrlich eingestehen, konnte ich in meiner Auszeit allein nicht besiegen. Doch was sich maßgeblich veränderte, war der Wille, der immer stärker wurde, etwas zu ändern. Die viele Zeit allein, die Möglichkeit, mich in Ruhe und ohne Ablenkung zu reflektieren, ebnete mir den Weg in die Freiheit. Ich wusste, wenn ich zurück in Deutschland wäre, würde ich wieder in die Suchtberatung (https://frauenperspektiven.de) gehen und den Weg in ein Leben ohne Alkohol beginnen.

Frage dich: Was hat dich früher glücklich gemacht?

Die heilsame Beschäftigung mit sich selbst braucht Ausdruck. Das kann Gesang sein oder geschriebene Worte, Gemaltes, Tanz, oder jede andere Form von Gestaltung. Kunst und Kreativität bieten viele Wege, um Gefühle individuell auszudrücken, ohne sie zu bewerten. Und im Idealfall machen sie noch Spaß, lassen den Gedanken freien Lauf oder bieten eine Zuflucht, wenn die Außenwelt zu viel wird.

Ich bin eigentlich dafür bekannt, das Herz auf der Zunge zu tragen – meist offen, ehrlich und direkt. Doch es gibt auch die andere Seite in mir, die verstummt, wenn Wut oder Angst überhandnehmen. Dann fühle ich mich wie gefangen in mir selbst, ohne zu wissen, wohin mit all den Gefühlen. Früher war die Flasche mein einziger "Ausweg". Doch heute ist es ein leeres Blatt Papier, das mich rettet.

Papier und Stifte sind mein Rückzug

Papier, Stifte und ein Hörbuch – das ist mein kleiner Rückzugsort. Hier bringe ich all das zum Ausdruck, wofür mir die Worte fehlen. Als Kind konnte ich stundenlang malen, während ich Kassetten hörte. Es war meine Flucht aus dem Familienchaos, mein sicherer Ort. Doch mit Anfang 20 hörte ich plötzlich auf zu malen. Vielleicht, weil der Alkohol da längst mein Leben bestimmt hat. Mit 16 begann ich regelmäßig zu trinken, und das Bedürfnis, kreativ zu sein, verschwand.

Erst mit der Nüchternheit kam das Malen zurück. Und heute weiß ich: Es war nie weg, es war nur überdeckt. Jetzt male ich wieder – nicht, um ein perfektes Bild zu schaffen, sondern um loszulassen. Um Gefühle zu verarbeiten, die ich nicht in Worte fassen kann. Wenn ein Bild fertig ist, fühlt es sich an, als hätte ich Stunden guter Therapie hinter mir. Es ist befreiend, heilsam, echt.

Und du? Was hat dich glücklich gemacht, als du noch keinen Alkohol brauchtest, um Spaß zu haben? Vielleicht findest du Freude in etwas, das du als Kind geliebt hast. Vielleicht wartet dort ein Teil von dir, der dich daran erinnert, wer du wirklich bist – frei, kreativ, ganz du selbst.

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