
Mein Weg raus
Am 25.12.2018 hatte ich meinen absoluten Tiefpunkt erreicht. Drei Monate zuvor war ich in Portugal, wo ich viel Zeit damit verbrachte, über meine Alkoholsucht nachzudenken. Seit ein paar Wochen war ich zurück in Hamburg, trank zwar deutlich weniger, aber dann kam dieser eine Absturz – ausgerechnet am ersten Weihnachtsfeiertag. Meine Familie wusste, dass ich den Schritt in eine Suchtherapie wagen wollte, und so entschied meine Mutter, dass Heiligabend zumindest alkoholfrei bleiben würde. Es war das schönste Weihnachten, das wir je miteinander erlebt haben – keine Spannungen, keine Sticheleien. Ich fühlte mich glücklich und voller Dankbarkeit.
Am nächsten Tag war ein Treffen mit weiteren Familienmitgliedern geplant, und ich hatte mir fest vorgenommen, wenig zu trinken. Ganz ohne Alkohol, das war für mich in dieser Runde undenkbar. Um 14:00 Uhr wurde mir das erste Glas Prosecco angeboten. Obwohl ich zunächst ablehnte, gab ich nach wenigen Sekunden, verschämt lächelnd, doch nach. „Ein Drink wird ja wohl nicht so dramatisch sein“, dachte ich. Doch heute, fast sechs Jahre später, weiß ich: Dieser Abend war der Wendepunkt. Wir begannen mittags zu trinken, und es gab kein Zurück mehr. Am frühen Abend war das Fest vorbei, alle gingen ins Bett, und ich fuhr mit dem Bus nach Hause. Mein Körper war voll mit Alkohol, die Scham erdrückend, und während ich im Bus saß, überrollten mich dunkle Gedanken. Eine leise Stimme flüsterte in mir: „Sieh nur, wieder hast du versagt. Du bist zu schwach, also warum überhaupt noch weitermachen?“ Ich fühlte mich innerlich leer, ausgebrannt, und drehte mich nur noch um die Frage, wie ich meinem Leben ein Ende setzen könnte.
Zu Hause ließ ich mich komplett angezogen – Wintermantel, Schal und Stiefel – auf die Couch fallen. Die Gedankenspirale drehte sich unaufhörlich tiefer. Plötzlich, wie aus dem Nichts, schrieb mich mein Freund Scott aus Portugal an. Er lebte seit einigen Jahren nüchtern und wollte wissen, wie es mir geht und wie mein Weihnachten verlief. Ich konnte an diesem Abend nicht antworten, wollte es auch nicht. Am nächsten Morgen schrieb ich ihm, dass ich viel an ihn gedacht hatte und ihm meine Verzweiflung schilderte – wie ich mir nur wünschte, dass es aufhörte und ich endlich in die verdammte Reha-Klinik könnte. Noch am selben Morgen telefonierten wir. Scotts einfühlsame, verständnisvolle Worte gaben mir die Kraft, an diesem Abend zu meinem ersten AA-Meeting zu gehen. Keine Vorwürfe, keine moralischen Zeigefinger, dass es doch bloß an meiner Disziplin läge. Scott wusste aus eigener Erfahrung, wie es ist, diesen Weg zu gehen.
„Es ist die Sucht, die dich immer wieder in diese Situationen bringt. Du kannst das nicht kontrollieren, aber du bist auf dem richtigen Weg, dir Hilfe zu holen. Wärst du nicht alkoholkrank, hättest du den ersten Drink abgelehnt. Das ist die verdammte Sucht.“
Gemeinsam suchten wir nach Meetings in meiner Nähe, und noch am gleichen Abend machte ich mich auf den Weg. Auch wenn ich schließlich vor verschlossener Tür stand, hatten mir Scotts Worte so viel Mut gegeben, dass ich am nächsten Tag zu meinem ersten AA-Meeting ging. Dort traf ich auf C. Durch ihr Netzwerk und ihr Engagement bekam ich schon nach wenigen Tagen einen Platz in einer Hamburger Entzugsklinik. Ab diesem Moment wusste ich: Der Weg ist geebnet, und es gibt kein Zurück. Ich durfte endlich gesund werden.
Am 03.01.2019 trat ich einen achttägigen Entzug an, gefolgt von einer achtwöchigen Reha im Allgäu. Heute bin ich fast sechs Jahre nüchtern und unendlich dankbar für all die Menschen, die mich auf diesem Weg in die Freiheit unterstützt haben. Nüchtern leben ist ein Geschenk!