
Klar durch den Schmerz – meine erste nüchterne Trauer
Ich dachte, ich wüsste, was Trauer ist. Aber erst jetzt, nach dem Tod meiner Mutter, verstehe ich, wie sie sich wirklich anfühlt – wenn man ihr nüchtern begegnet. Ohne sich zu betäuben. Ohne zu flüchten. Und wie viel Kraft genau darin liegen kann.
Erst wenn die eigene Mutter stirbt, wird der Tod wirklich real
Er ist plötzlich ganz nah, täglich spürbar, gegenwärtig – und jetzt ein Teil von mir.
Irgendetwas hat sich in mir verschoben. Ganz leise. Nicht dramatisch, aber spürbar. Ich beobachte, was diese stille Veränderung mit mir macht, wie sie mich innerlich sortiert – oder auch durcheinanderbringt.
Zum ersten Mal erlebe ich Trauer ohne Ablenkung, ohne Alkohol, ohne Betäubung.
Ich trinke seit sechs Jahren keinen Alkohol mehr. Und ich merke: Ich halte Schmerz jetzt anders aus. Tiefer, klarer. Ich laufe nicht mehr weg. Und gerade deshalb gelingt mir das Verarbeiten besser.
Als mein Vater vor neunzehn Jahren starb, war das anders. Ich bin geflüchtet – in Arbeit, in Alkohol, ins Funktionieren. Ich wollte der Trauer entkommen, weil ich nicht wusste, wie ich sie aushalten sollte. Damals hatte ich kaum inneren Halt, kein Fundament, das mich getragen hätte.
Dieses Mal ist es anders. Ich trauere nüchtern.
Wie wir gemeinsam trauern – und doch ganz verschieden
Der Tod bringt nicht nur Abschied mit sich, sondern auch neue Wege, einander zu begegnen.
Meine Geschwister und ich haben das Sterben unserer Mutter gemeinsam erlebt – und doch verarbeitet jede:r von uns diesen Verlust auf eigene Weise.
Was bleibt, ist das, was uns verbindet.
Seit einem Jahr ist unsere Mutter nun tot – und ich merke, wie fremd mir dieses eine Wort noch immer ist: tot.
Es klingt so endgültig, so leer, so hart. Als würde es nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Fast lieblos. "Klappe zu, Affe tot" – so hat meine Großmutter früher manchmal gesagt. Tot halt.
Meine tote Mutter ist mir fremd. Ich glaube, ich brauche noch Zeit, um mich an diese neue Mutter zu gewöhnen – die, die nicht mehr hier ist, aber trotzdem irgendwie da. Nur eben anders.
Meine Schwester und ich sprechen oft über unsere Trauer. Über Mamas letzte Tage, über das, was danach kam – und wie sich unser Leben seitdem verändert hat.
Sie ist der einzige Mensch, mit dem ich meine Gedanken und Gefühle in dieser Tiefe teilen kann.
Denn wir haben unser Leben mit derselben Mutter geteilt. Wir kennen dieselben Geschichten, dieselben Wunden, dieselbe Nähe.
Meine Brüder trauern auch – sehr sogar.
Aber wir sprechen selten darüber. Nicht aus Gleichgültigkeit. Sondern weil unsere Sprache für Trauer verschieden ist.
Wir vier trauern unterschiedlich – und trotzdem gemeinsam.
Das Sterben unserer Mutter, das Abschiednehmen, diese letzten intensiven Tage – das alles haben wir gemeinsam erlebt und durchgestanden.
Wir waren uns eine Stütze. Und sind es noch.
Durch den Tod unserer Mutter sind wir alle die Erwachsenen
Mit ihrem Sterben ist etwas in unserer Familie in Bewegung geraten.
Wir sind jetzt die Erwachsenen – ganz ohne Puffer, ganz ohne Generation über uns.
Unsere Mutter war immer die zentrale Figur. Die, zu der man mit allem kommen konnte: mit Sorgen, Nöten, Freude, Liebe.
Jetzt ist sie nicht mehr da. Und plötzlich sind wir, ihre Kinder, die neue Frontlinie des Lebens. Die, die tragen, ordnen, halten – für sich selbst und füreinander.
Früher war ich in dieser Rolle oft allein, viel zu früh. Heute sind wir vier Geschwister auf Augenhöhe. Es ist nicht mehr wichtig, wer älter oder jünger ist, wer lauter oder leiser war – denn da ist niemand mehr, um dessen Aufmerksamkeit wir buhlen, streiten oder kämpfen müssen.
Ich verbringe in dieser Zeit viel Zeit in unserem Garten.
Der warme Frühlingswind, das Summen der Bienen, die vielen bunten Blumen und Sträucher, die nach einem langen verregneten Winter zum Leben erwachen – all das bringt mich zurück ins Jetzt.
Während ich mit meinen Händen in der Erde grabe und neues Gemüse anpflanze, spüre ich trotz der Trauer so viel Freude und Lebensmut.
Ich fühle, wie mich die Zeit im Garten heilt.
Alkohol kann Schmerz verdrängen – oder intensivieren
Früher, als ich noch jeden Tag Alkohol getrunken habe, hätte ich versucht, den Schmerz mit noch mehr Wein zu betäuben.
Vielleicht hätte ich aber auch so viel getrunken, damit der Schmerz in seiner vollen Wucht hochkommt.
Ich war 27 Jahre lang abhängig vom Alkohol. Ich habe ihn auch bewusst eingesetzt – um intensiver zu fühlen oder um überhaupt nichts mehr fühlen zu müssen.
Ich wäre in meiner Trauer versunken – und der Prozess, den Schmerz in mein Leben zu integrieren, hätte wahrscheinlich nicht stattfinden können.
Das permanente Benebeltsein hat bei mir dazu geführt, dass ich in immer kürzeren Abständen Depressionen, Angstzustände und Panikattacken entwickelte.
Keine Therapieerfolge wegen meiner Suchterkrankung
Therapien halfen nicht wirklich – und ich verstand nicht, warum.
Ich erzählte nie, dass ich regelmäßig und viel trank.
Nur einmal sprach ich es vorsichtig bei einer Therapeutin an: dass ich „wohl zu viel trinke“.
Die Therapeutin machte mir unmissverständlich klar: Wenn sie den Eindruck bekäme, dass ich eine Suchterkrankung hätte, müsse sie die Therapie abbrechen – denn das läge nicht in ihrem Fachbereich.
Heute verstehe ich, dass sie absolut recht hatte.
Und dass das mein erster Schritt in eine Suchttherapie hätte sein sollen.
Aber so weit war ich damals noch nicht.
Ich kann die Trauer fühlen und aushalten – ohne Alkohol
Es mag seltsam klingen – aber es ist irgendwie schön, dass ich im vollen Bewusstsein, ohne Alkohol trinken zu müssen, um meine Mutter trauern kann.
Ich beobachte, wie sich die Trauer in verschiedenen Formen zeigt – sie bleibt nie gleich.
- Ich kann alles fühlen – und es aushalten.
- Ich zerbreche nicht daran.
- Ich beobachte, wie sich der Schmerz manchmal unerwartet Bahn bricht – oder wie ich mit tiefer Dankbarkeit an meine Mutter denken kann, ohne dass es weh tut.
- Manchmal bin ich sogar fröhlich – zum Beispiel, wenn der Schmetterling auftaucht, der immer wieder erscheint, wenn ich an sie denke oder über sie spreche.

Ob es Einbildung ist – oder wirklich meine Mutter, die mir sagt: „Ich bin da. Anders, aber ich bin da.“ – wer weiß das schon?
Aber es schenkt mir echte, kleine Glücksmomente.
Mich für ein Leben in vollem Bewusstsein zu entscheiden, war das größte Geschenk, das ich mir selbst machen konnte.
Heilsam trauern – 6 Impulse für die nüchterne Zeit der Trauer
Wenn du selbst in einer Zeit der Trauer bist und nüchtern bleibst – oder bleiben willst –, können dir diese Gedanken helfen:
- Erlaube dir, alles zu fühlen:
Trauer ist nicht linear. Sie kommt in Wellen, bricht plötzlich hervor oder bleibt lange still. Nimm sie an, wie sie kommt – ohne sie wegzuschieben. - Finde deinen sicheren Raum:
Das kann ein Garten sein, ein Spazierweg, ein Ort in deiner Wohnung – ein Raum, in dem du durchatmen kannst, ohne dich zu betäuben. - Sprich mit Menschen, die dich verstehen:
Es muss nicht viele geben – vielleicht nur eine Person. Aber diese Verbindung kann Trost und Klarheit bringen. - Schreibe. Male. Bewege dich:
Ausdruck hilft. Ob mit Worten, Farben oder deinem Körper – was innen ist, darf raus. - Achte auf kleine Zeichen:
Vielleicht gibt es Symbole, die dich an den Menschen erinnern, den du verloren hast. Halte sie in Ehren. Sie dürfen Trost spenden – egal, ob real oder eingebildet. - Gib dir Zeit. Viel Zeit:
Trauer ist kein Prozess mit einem Ziel. Sie verändert sich – wie du dich veränderst. Und das ist in Ordnung.
Fazit: Nüchtern trauern ist ein mutiger, klarer Weg
Wenn du diesen Weg gerade gehst: Du bist nicht allein.
Nüchtern zu trauern ist ein mutiger, klarer, bewusster Weg – und er führt, Schritt für Schritt, zurück ins Leben.